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Blogbeitrag Nachwuchsblog

"Wenn alles anders wäre. Ein Blick in die Zukunft der Buchbranche" - Ein Essay von Tobias Groß.

2030 ist keine weit entfernte Zukunft, sie ist näher als wir denken. In seinem Essay für das Nachwuchsparlament 2021 zeichnet Tobias Groß ein beeindruckend umfassendes Zukunftsszenario der Buchbranche und rückt den Aspekt des Persönlichen in den Fokus.
Erstellt am 10.08.2021


Aus heutiger Sicht scheint das Jahr 2030 eine weit entfernte Zukunft zu sein. Eine Zukunft, deren Betrachtung dem berühmten Blick in die Kristallkugel gleicht und mehr von Mutmaßungen, als von konkreten Voraussagen bestimmt ist. Schließlich geschieht immer irgendetwas, mit dem niemand gerechnet hat – wie uns die letzten knapp 1,5 Jahre auf äußerst heftige Art und Weise bewiesen haben. Heute ist nichts mehr so, wie es war. Und nichts wird mehr so sein, wie zuvor. Doch in welche Richtung könnte sich die Buchbranche entwickeln? Wird das Kulturgut Buch auch noch 2030 existieren? Werden die Menschen überhaupt noch lesen?

Schon jetzt steht fest, dass tiefgreifende Veränderungen auch nicht vor unserer Branche Halt machen. Mehr noch: der sich seit Jahren andeutende Wandel des Buchhandels, der sämtliche Bereiche betreffen wird, beginnt sich zu vollziehen – und zwar schneller, als wir es bisher angenommen haben. Die Pandemie wirkt als gnadenloser Prozessbeschleuniger, sie lässt die entfernt geglaubte Zukunft schon jetzt eintreten. Ein „Weiter so“ wird es nicht geben. Der Strukturwandel ist endgültig eingetreten.

Nach knapp 18 Monaten Corona-Krise zeigt sich uns folgendes Bild: Einerseits ist der im Frühjahrslockdown 2020 erneut vorausgesagte Abgesang der gesamten Buchbranche auch 2021 nicht eingetreten, Netflix, Instagram und Co. versetzten dem Buch nicht den Todesstoß. Im Gegenteil. Denn wie aktuelle Zahlen belegen, wird erfreulicherweise wieder mehr gelesen. Besonders Kinder-, Freizeit- und Sachbücher erlebten eine kleine Renaissance, die Auflagen stiegen. Das ist gut. Doch andererseits zeigt sich, dass sehr viele dieser Bücher nicht über den stationären Buchhandel an die Kund:innenschaft kamen. Der E-Commerce boomt wie nie, er bremst die durch den Lockdown generierten Umsatzverluste und sichert zurzeit das Überleben der gesamten Branche.

Jedoch profitieren nicht alle von einem rapide wachsenden Onlinegeschäft. Vor allem Amazon wird täglich mächtiger und größer. Logisch, denn Amazon besitzt keine eigenen Ladengeschäfte, hat fast keine Kosten und ist aufgrund seiner machtvollen Marktposition zwar nicht beliebt, für die Verlage jedoch überlebenswichtig. Indes können sich große Buchfilialisten wie Thalia Mayersche, Hugendubel und Osiander über einen enormen Kund:innenzuwachs und steigende E-Commerce-Umsätze freuen, die Profite aus dem Onlinegeschäft können die ausbleibenden Einnahmen der geschlossenen Buchhandlungen jedoch nicht kompensieren. Die daraus resultierenden Verluste werden diese Unternehmen noch etliche Jahre belasten. Auf lange Sicht könnten sie sogar eine Marktbereinigung zur Folge haben und für die Schließung vieler (Filial-)Buchhandlungen sorgen.

Das Ladensterben und der Frequenzverlust in den Innenstädten könnten so schneller und verheerender sein, als uns lieb ist. Besonders kleine und mittlere Städte werden die Folgen des Wandels im Einkaufsverhalten spüren, da in diesen schon heute die Kaufkraft aufgrund einer Überalterung der Bevölkerung geringer ist, als in den florierenden Großstädten. 2030 könnten Klein- und Mittelstädte deshalb nur noch über Lebensmittelgeschäfte, Drogerien, Optiker und Apotheken verfügen – alle übrigen Einzelhändler sind ausschließlich in den Großstädten vertreten. In diesen Einkaufsstädten befinden sich auch die Buchhandlungen. Sowohl die zahlreichen inhaber-geführten als auch die eines einzig verbliebenen Groß-Filialisten, welcher inzwischen über keine Megastores mehr verfügt und stattdessen auf viele kleinere und mittelgroße Buchhandlungen in 1A-Lagen setzt.

In den Jahren nach dem unmittelbaren Ende der Coronapandemie ereignete sich eine kurzfristige Wiederbelebung des Shoppings. Die Leute besannen sich darauf, wie schön das Einkaufen vor Ort ist. Leider erwies sich dieser Trend jedoch nicht als langlebig, da viele Händler:innen und Filialisten in Folge der zahlreichen Lockdowns schließen mussten und es keine Nachfolger:innen für deren Ladengeschäfte gab. Die Innenstädte verloren an Attraktivität, die Menschen blieben zu Hause und bestellten ihre favorisierten Produkte bequem und sicher online – so wie sie es in Coronazeiten gelernt hatten. Die Situation ist 2030 jedoch eine andere als früher, denn Amazon verlor seine Stellung als erste Wahl. Die Sichtbarkeitsoffensive der Konkurrenz während Corona zeigte Wirkung: Die Menschen entdeckten, dass es zahlreiche Alternativen „zum großen A“ gibt. Schlechte Arbeitsbedingungen, Steuervermeidung und Intransparenz auf allen Ebenen ließen das Vertrauen bei den Konsument:innen schwinden und egalisierten die Convenience-Aspekte. Das sogenannte „Amazonshaming“setzte ein.

Besonders die Buchbranche profitierte von diesem Phänomen. Das Vermeiden vom Kaufen bei ‚Amazon‘ und die bewusste Unterstützung des Buchhandels sind bis 2030 zu einem weit verbreiteten Statement geworden. Wie kein anderer Handelsbereich zeigte die Branche während der Pandemie Präsenz und signalisierte, dass diese jederzeit für die Kund:innenschaft da ist – aufopferungsvoll und entgegen aller Widerstände. Sie nutzte die digitalen Potenziale und verband sie gekonnt mit dem Analogen, da die Menschen mal in den durchdigitalisierten Buchhandlungen, mal online einkaufen. 2030 sind digital und stationär daher komplett verzahnt, sodass sich beispielsweise das Abholen der (per App oder online) bestellten Ware vor Ort noch stärker etabliert hat und sich großer Beliebtheit erfreut. Auch e-Books haben die gedruckten und preisgebundenen Bücher nicht verdrängt. Zwischen beiden Formaten herrscht eine stille Koexistenz, auch wenn das Lesen auf den modernen e-Readern nie komfortabler war und exklusive e-Book-Inhalte sehr überzeugende Argumente für das digitale Lesen sind.

Trotz dieser umfassenden Digitalisierung ist der Charme des Persönlichen nicht verloren gegangen. Im Gegenteil: Die Buchhändler:innen sind in die Digitalisierung voll eingebunden. 2030 vergeht kein Tag mehr, an welchem nicht tausende Bücher durch Buchhändler:innen online rezensiert, per Telefon oder Messenger empfohlen und Lesungen (in den Buchhandlungen) sowie Autor:inneninterviews per Streaming einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden.[1] Ebenso wichtig sind Instagram und Co., wo Leser:innen und Bookstagramer:innen Bücher bewerben und junge Zielgruppen begeistern. Dieser starke persönliche Charakter zeichnet den Buchhandel auch 2030 aus und macht ihn besonders. Die Kund:innen wissen es zu schätzen, dass hinter all dem echte Menschen stehen und keine gesichtslosen Algorithmen oder künstliche „Intelligenzen“.

Leider deutete sich bereits in den vorpandemischen Jahren an, dass die einzigartige verlegerische Vielfalt in Deutschland akut gefährdet ist. Bis 2030 konnten sich viele kleine und mittlere Verlage trotz intensivster Bemühungen (auch von politischer Seite) nicht auf dem hartumkämpften Markt halten und existieren nicht mehr. Infolgedessen kam es in den Post-Corona-Jahren zu einem Boom des Selfpublishings, dass sein schlechtes Image verlor und nun eine risikoarme und akzeptierte Veröffentlichungsform literarischer Texte ist. Es ist zu einem Sprungbrett zu einem großen Verlag geworden und erfüllt damit die Funktion, die früher die kleinen bis mittleren Verlage innehatten. Das befürchtete Absinken der Qualität stellte sich ebenfalls nicht ein. Viele einst als nicht massentauglich eingeschätzte Texte wurden durch die Anbieterplattformen einem breiteren Publikum zugänglich und fanden Beachtung – selbst bei den Literaturpreisen.

2030 ist keine weit entfernte Zukunft, sie ist näher als wir denken. Das von mir beschriebene und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Szenario ist dementsprechend von Realismus geprägt und kein utopisches Gedankenspiel. Zwar wird die Coronapandemie vieles verändern, die Jahre 2020/21 könnten gesellschaftlich sogar zu einer Zeitenwende führen – das Kulturgut Buch wird jedoch nicht verschwinden. Genauso wenig die Buchhandlungen. Im Gegenteil: Da die Menschen allen Befürchtungen zum Trotz weiterhin lesen, haben sich das Buch und die gesamte Branche in den letzten 18 Monaten als ziemlich widerstandsfähig erwiesen. Wenn alle Akteur:innen die ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Mittel effektiv nutzen und den Aspekt des Persönlichen noch stärker in das Zentrum ihres Selbstverständnisses rücken, wird unsere Branche viel besser durch die Krise kommen als andere Handelsbereiche. Denn auch in Zukunft wird geistige Nahrung wichtig bleiben, ist sie doch das beste Mittel gegen Verschwörungsmythen, Fake-News und Populismus.

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[1] Auf professioneller Seite ebenso die digital stattfindenden Verlagsvorschauen, welche die Vertreter:innenbesuche ersetzt haben.


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